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Wir freuen uns in diesem Jahr ganz besonders, dass Frau Prof. Dr. Astrid Wallrabenstein das JuraForum 2025 eröffnen wird.
Die gebürtige Münsteranerin studierte zunächst in Münster und Freiburg Jura. Im Anschluss daran promovierte sie 1999 mit der Arbeit „Konzeptionen von Staatsangehörigkeit unter dem Grundgesetz“ und habilitierte 2008 zum Thema der „Versicherung im Sozialstaat“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie erhielt für erstere den Dissertationspreis, für letztere den Dr.-Herbert-Stolzenberg-Preis der Universität. Zunächst war sie von 2008 bis 2010 Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Bildungsrecht und Recht der sozialen Sicherung an der Universität Bielefeld. Seit 2010 ist sie Professorin für Öffentliches Recht mit einem Schwerpunkt im Sozialrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, war zwischen 2011 und 2020 Geschäftsführende Direktorin der Forschungsstelle ineges, dem Institut für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht an eben dieser, zwischen 2012 und 2020 Mitglied des Sozialbeirats der Bundesregierung und hat von 2015 bis 2020 die Goethe Uni Law Clinic Migration und Teilhabe aufgebaut und koordiniert.
Im Mai 2020 wurde Prof. Dr. Astrid Wallrabenstein in den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts gewählt.
Welche rechtlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Kontext von Selbstbestimmung halten Sie für besonders bedeutsam?
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat wichtige Impulse gesetzt: für die Zwangsbehandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und für die Assistenz beim Suizid, für die Anerkennung geschlechtlicher Diversität und – gewissermaßen als Dauerbrenner – für die informationelle Selbstbestimmung auch im digitalen Zeitalter. Auf der politischen Ebene der Gesetzgebung und Verwaltung finden sich nach meinem Eindruck Entwicklungen in beide Richtungen: die Legalisierung von Cannabis gehört wohl auf die Seite „mehr individuelle Selbstbestimmung“, die Einführung von Impflichten oder auch die zwingende Nichtigkeit von Kinderehen und Mehrehe als Einbürgerungshindernis würde ich auf der anderen Seite einordnen. Interessanterweise kann man die Diskurse auch genau andersherum führen.
Welche Rolle spielen Selbstbestimmungsrechte für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung? Welche Herausforderungen ergeben sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmungsrecht und staatlicher Regulierung?
Individuelle Selbstbestimmung ist ein zentraler Topos einer liberalen Staats- und Gesellschaftsordnung. Staatliche Regulierung bedarf dadurch schon im Grundsatz der Rechtfertigung. Dies führt unter der Bedingung einer effektiven Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur zur Begrenzung staatlicher Macht, sondern auch zur Rationalisierung der Debatte. Man darf fragen „Warum?“, und die Antwort lautet nicht einfach „Weil er’s kann“. Eine strukturelle Herausforderung besteht darin, dass Demokratie in dieser Dichotomie nicht vorkommt. Selbstbestimmung lässt sich aber nicht nur auf der Seite individueller Freiheiten, sondern auch auf der Seite staatlicher Regulierung in die Argumentation einbringen, nämlich als kollektive Selbstbestimmung, die aus dem Demokratieprinzip abgeleitet wird. Die Antwort auf die Warum-Frage lautet dann „Weil wir’s wollen“; daraus kann aber auch „Weil wir’s können“ werden.
In welchen Bereichen sehen Sie Potenzial für eine Stärkung der Autonomie des Individuums durch das Gesetz, wo könnten mehr Freiräume geschaffen werden?
Ich sehe in Deutschland alles in allem sehr gute Möglichkeiten für die individuelle Selbstbestimmung. Bedarf für die Stärkung von individueller Autonomie sehe ich aber ganz klar bei der Bildung junger Menschen. Nach meinem Eindruck ist die Kinder- und Jugendarbeit in unserer Gesellschaft viel schlechter finanziert, ausgestattet, angesehen etc. als vor 20, 30 oder 40 Jahren. Dabei sind heute die Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen sehr viel größer als zu meiner Jugendzeit. Kann man heute wirklich noch guten Gewissens von Chancengleichheit sprechen?